„Kein Wunder, dass Ihr Sohn so klein ist. Kinder müssen fünfmal wöchentlich Fleisch essen, um Gewicht zunehmen zu können.“
Das teilte die Kinderärztin einer meiner Patienten dessen Mutter bei der Besprechung der Perzentilenkurven (diese finden Sie im gelben Untersuchungsheft Ihres Kindes) mit.
Dass Fleisch und andere tierische Nahrungsmittel nicht notwendigerweise Bestandteil der Ernährung eines Kindes sein müssen und dass Kinder mit einer gut geplanten, pflanzlich basierten Ernährung sich normal entwickeln und wachsen können, wurde bereits in einem anderen Blogartikel besprochen: https://vegped.com/die-vechi-diet-study-eine-richtungsweisende-studie-zur-ernaehrung-und-wachstum-von-veganen-kindern-im-vergleich-zu-vegetarischen-und-omnivoren-kindern-im-altern-von-1-3-jahren/
Mit diesem Beitrag möchte ich Ihnen das notwendige Basiswissen zum Wachstum und Gedeihen von Kindern und zum richtigen Lesen von Perzentilenkurven an die Hand geben, um gut vorbereitet mit Ihrem Kinderarzt über diese Themen sprechen zu können.
Warum das insbesondere für vegetarische und vegane Familien relevant sein kann? Das Lesen und Interpretieren von Wachstumskurven ist eine grundlegende Fertigkeit jedes Kinderarztes. Manche Kinderärzte sind aber so beunruhigt von der Tatsache, dass ihr kleiner Patient ohne tierische Nahrungsmittel ernährt wird, dass es teilweise zu vorschnellen Fehlinterpretationen der Perzentilenkurven kommt – so geschehen auch im eingangs erwähnten Fall: Der Junge ist Sohn zweier Eltern, die beide unterdurchschnittlich groß sind und damit, wie zu erwarten, selbst auch kein „Riese“ ist. Er wächst aber konstant auf „seiner“ 10. Gewichts- und Längenperzentile und entwickelt sich auch ansonsten völlig unauffällig.
Über die Themen Wachstum, kindliche Entwicklung und Perzentilenkurven könnte man unzählige Blogartikel schreiben, ich möchte hier aber nur die wichtigsten Aspekte zusammenfassen:
- Das Wachstum, die Körpergröße und Körperform ist überwiegend genetisch festgelegt. Kinder wachsen und gedeihen, sofern man sie „lässt“, natürlicherweise so, wie es für sie vorgesehen ist und essen so viel (oder wenig), wie ihr Körper dafür braucht.
- Kinderärzte nutzen Perzentilenkurven, um kontinuierlich das Wachstum und das Gedeihen von Kindern beobachten zu können (und im Bedarfsfall frühzeitig intervenieren zu können). Diese Perzentilenkurven basieren auf Messdaten von Tausenden von Kindern.
- Die Perzentilen auf einer Wachstums-/ bzw. Gewichtskurve zeigen, wie groß oder wie klein bzw. wie schwer oder leicht ein Kind ist im Vergleich zu seinen Altersgenossen
Beispiele:
Wenn das Gewicht eines sechs Monate alten Säuglings auf der 10. Perzentile liegt, heißt das beispielsweise, dass 10 Prozent seiner Altersgenossen weniger wiegen und 90% mehr wiegen als dieser Säugling.
Wenn die Größe eines Kindes auf der 90. Perzentile liegt, bedeutet das, dass 90 Prozent der gleichaltrigen Kinder kleiner und 10 Prozent größer sind als dieses Kind.
- Wichtig: Eine Perzentilenkurve sind kein Zeugnis! Die 10. Perzentile ist nicht „schlechter“ als die 50. Perzentile und die 75. Perzentile ist nicht “besser” als die 15. Perzentile.
- Der individuelle PerzentilenVERLAUF eines Kindes ist viel wichtiger und aussagekräftiger als die jeweilige Perzentile. Bei einem Kind, das konstant auf der 8.Perzentile wächst und gesund ist, sich normal entwickelt und bei dem auch ansonsten kein Grund zur Besorgnis besteht (wie z.B. Fütterungsstörungen), ist mit großer Wahrscheinlichkeit alles in Ordnung. Das Wachstum bzw. die Perzentilenkurve dieses Kindes ist nicht „schlechter“ als die eines gesunden Kindes, das auf der 75. Perzentile wächst.
- Wann besteht berechtigter Anlass zur Sorge? Eine Abweichung von der Perzentilenkurve innerhalb eines kurzen Zeitraumes, ein sogenanntes „Perzentilenkreuzen“, muss ärztlich abgeklärt werden. Ein „Perzentilenknick“, also zum Beispiel ein Abfall von der 25. Perzentile unter die 3. Perzentile kann ein Hinweis für eine chronische Erkrankung, wie z.B. eine Zöliakie, sein.
- Bei beiden oben gezeigten Perzentilenverläufen handelt es sich um einen stabilen Gewichtsverlauf, der keinen Anlass zur Sorge gibt, weder bei dem Kind, dessen Gewicht zwischen der 75. und 90. Perzentile liegt noch bei dem Kind, dessen Gewicht auf der 10. Perzentile liegt (vorausgesetzt natürlich, die Kinder sind auch ansonsten gesund und entwicklen sich unauffällig).
Diese beiden Perzentilenkurven geben berechtigten Anlass zur Sorge. Die rosa Kurve zeigt einen typischen „Perzentilenknick“, wie er unter anderem bei chronischen Erkrankungen, wie z.B. bei einer Zöliakie, gesehen wird.
Der Perzentilenverlauf für die Größe und das Gewicht Ihres Kindes wird bei jeder Vorsorgeuntersuchung („U-Untersuchung“) von Ihrem Kinderarzt überprüft. Wenn Sie sich Sorgen machen, dass es Auffälligkeiten beim Wachstum bzw. dem Gedeihen Ihres Kindes gibt, sprechen Sie Ihren Kinderarzt darauf an.